"Ein blinder Passagier? Wie ist das möglich?"
fragte Pravin Lal, als die Fähnriche Dana und Cassiano besorgt Bericht
erstatteten.
"Das ist doch nicht möglich? Jeder Mensch braucht eine Kältekapsel",
meldete sich Miriam von einer kleinen grauen Bank in einer Ecke der
Kommandozentrale.
Lal hatte auf einem großen Sensorfeld bereits eine schematische Darstellung
des Schiffs aufgerufen und konzentrierte sich auf die Kältedecks. Das
Diagramm war ein kompliziertes System aus Linien, die Kabelstränge und
Querverbindungen, repräsentierten. "Versteht das hier irgendjemand?"
Zakharov trat heran und begann, das Puzzle zusammenzusetzen. "Isolieren und
überprüfen Sie jeden Teil für sich", riet er. Nach und nach
verschwanden nun die farbigen Raster. "Sehen Sie: Anmerkungen von Technikern;
hier an den kleinen sternförmigen Markierungen. Das hier sind ältere
Einträge
der Abschnitt wurde von den Russen gebaut." Nicht ohne
Stolz richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
"Hätte ihre russische Präzision den Einbau einer zusätzlichen
Kältekapsel zugelassen?" fragte Miriam aus ihrem Stuhl von halbrechts.
Zakharov funkelte sie verärgert an. "Es waren nicht die Russen, das
versichere ich Ihnen. Sehen Sie, es war bereits vor dem Zusammenbruch des
Jahres 2058. Es gibt kein Kodizill."
"Kein was?" fragte Lal.
"Ein Nachwort des leitenden Ingenieurs. Sozusagen die Bestätigung, daß
alle Wissenschaftler ihr bestes gegeben haben und hoffen, daß
sämtliche Funktionen optimal funktionieren."
"Also eine Art Segen?" fragte Miriam lächelnd.
"Nichts dergleichen. Einfach eine Abschlußerklärung."
"Wir sollten uns bei Gelegenheit über Gebete unterhalten", sagte sie
und nickte ihm aufmunternd zu.
"Egal, was es ist", warf Lal ein. "Es ist jedenfalls keine UN-Vorgehensweise."
"Aber Tradition" entgegnete Zakharov. "Außerdem gibt es keinerlei
Anmerkungen zu den Kältetests."
"Dann... haben sie diese Tests vergessen?"
"Unmöglich. Es hätte in jedem Fall Aufzeichnungen zu den Tests
geben müssen. Alle technischen Anmerkungen der Agenten beliebiger
Regierungen sind der Öffentlichkeit zugänglich. Sollte jedoch
später ein privates Unternehmen mitgearbeitet haben, könnten die
technischen Anmerkungen durchaus unter Verschluß gehalten worden sein."
Er gab eine komplizierte Befehlsreihe ein. "Wir wissen alle, wie viele Firmen
an diesem Projekt bis zur Fertigstellung beteiligt waren." Noch einmal
betätigte er das Sensorfeld. Plötzlich erschienen in der gesamten
Darstellung gelbe Symbole. Zakharov nickte.
"Nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft hat ein privates Unternehmen
die Arbeiten fortgesetzt."
Lal trat heran und tippte eines der Symbole an. Es erschien ein eingescanntes
Bild des leitenden Ingenieurs, eines dünnen, bläßlichen Mannes.
Zakharov war jedoch die Unternehmenskodierung in der rechten Ecke wichtiger.
"Morgan Industries" raunte er.
In diesem Moment sprang die Ausgangsluke auf. In der Tür stand ein
kräftiger Afrikaner. Dieser Mann mit dem königlichen Gesicht war
in eine schwarze Robe gehüllt, und an den Händen gefesselt. Hinter
ihm betrat ein Sicherheitsmann den Raum. Gegen die stattliche Erscheinung
des Afrikaners wirkte er beinahe wie ein Zwerg.
"Nwabudike Morgan", stellte der Mann sich mit tiefer, voller Stimme vor und
erhob seine Hände. "Ich habe einen Teil dieses Schiffs finanziert. Es
besteht kein Grund, mich zu fesseln."
Zakharov stand in der Offiziersmesse und genoß sein heißes Wasser,
das er mit milden Stimulantien versetzt hatte. In der Kommandozentrale befragten
Lal und die anderen diesen Morgan und versuchten herauszufinden, welche
Auswirkungen seine Anwesenheit auf den Ausgang ihrer Mission haben könnte.
Zakharov kümmerte das allerdings nicht sonderlich. Er schloß seine
Augen, als er die heiße Flüssigkeit angenehm in seiner Kehle
spürte und genoß diesen kurzen Augenblick der Entspannung nach
dem Streß, die Unity wiederherzustellen.
Die Tür hinter seinem Rücken öffnete sich. Als er sich umdrehte,
sah er Miriam, die auf das kleine Metallbecken zuging. Er beobachtet sie,
wie sie kaltes Wasser in ihr Gesicht spritzte. Schließlich sprach er
sie an.
"Ihr Glaube und Ihre Psychologie wird uns nicht helfen, dieses Schiff zu
reparieren, Officer. Vielleicht sollten Sie sich beides für die Bibliotheken
aufbewahren."
"Beides kann helfen", entgegnete sie kurz und trocknete ihr Gesicht mit einem
dünnen weißen Handtuch. "Sie sind für diese Mission ähnlich
wichtig, wie technische Berechnungen und Präzisionsinstrumente."
"Sind sie das?" Er lachte kurz. "Sollen sich meine Techniker die Hände
reichen und das Schiff auf den Planeten beten? Kann Gott das Atom
verändern?"
"Gott und der Glaube können alles verändern. Tatsächlich ist
für mich der Glaube transparenter als das Atom." Sie hob eine Hand.
"Der Glaube läßt meine Hand nicht zittern in schwierigen Zeiten
wie diesen. Wie sieht es mit Ihnen aus?"
Zakharov umgriff die Metalltasse fester und warf ihr einen verärgerten
Blick zu. Er versuchte herauszufinden, ob sie vom Zittern seiner Hände
wußte. "Ich fühle mich in meinem Wissen bekräftigt, daß
Ihre Glaubenssysteme alles andere als erloschen sind."
"Vielleicht. Und doch sehe ich die Furcht in den Augen Ihrer Techniker.
Männer und Frauen, die heute die Wissenschaft zur Religion erheben,
wissen, daß sie bereits morgen tot sein können. Das gibt dem Leben
eine gewisse Perspektive."
"Eine sinnlose Perspektive. Das Atom existiert, Gott nicht. Sie nähren
ihren Geist mit Illusionen."
Miriam sah ihn vorsichtig an. "Mein Glaube existiert, zumal die Welt ohne
ihn anders aussähe. Durch den Glauben sind meine Taten anders, meine
Reaktionen auf Ereignisse ebenfalls. Durch den Glauben ist es mir möglich,
sie mit Gelassenheit zu beobachten, anstatt mit ... Mitleid."
"Mitleid?" Er lachte laut auf. "Ihre Erfahrungen sind rein subjektiv."
Sie trocknete ihre Hände und gab zu bedenken. "Sie töten mein Kind.
Führt mich der Glaube, nehme ich keine Rache und meine Wunden verheilen.
Ohne den Glauben würde ich sie töten oder wäre bis an mein
Lebensende verbittert. Der Glaube hat meine Realität erhöht." Miriam
sah ihm nun direkt ins Gesicht und warf das Handtuch wie einen Fehdehandschuh
auf den Tisch zwischen sich und Zakharov. "Zeigen Sie mir das Atom, das dazu
in der Lage ist."
"Lithium", entgegnete Zakharov und grinste wie ein Totenschädel. "Ich
könnte Ihnen Chemikalien einflößen, die Ihr Herz verbittern
und Ihren Glauben zerstören würden."
"Könnten Sie nicht". Ihre Augen waren gelassen, ja herausfordernd.
"Es ist eine Tatsache mit wissenschaftlicher Gültigkeit. Das können
Sie nicht abstreiten."
Jetzt erwiderte sie nichts, sie ließ ihn jedoch nicht aus den Augen
und er bemerkte, daß er die Tasse immer noch umklammerte. Schließlich
ergriff er wieder das Wort. Beinahe flüsternd sagte er: "Der Glaube
ist nicht meßbar. Wir alle bestehen aus Atomen, mehr nicht. Daß
Ihre spezielle Atomanordnung an etwas glaubt, das sich Gott nennt, hat nichts
zu bedeuten. Menschen wie Sie, Kreuzritter auf ihrem Glaubenskreuzzug, haben
ihre Menschlichkeit schon vor Tausend Jahren verloren."
Plötzlich sprang sie auf und ergriff seine Hände. Er fühlte
ihre Wärme und das Zittern seiner eigenen Hände. In diesem Moment
war ihm klar, daß sie es auch fühlen konnte. Miriam schloß
ihre Augen.
"Ihre Atome betrügen Sie", sagte sie sanft und ließ seine Hände
los. "Jeder Ihrer Versuche erfolgt aus Gründen, die Sie nicht erklären
können. Sie suchen den Glauben in der Wissenschaft, weil Sie sich dort
sicher fühlen. Sie retten das Schiff nur, weil Sie es für ein
großartiges Experiment halten. Leben oder Tod, es besteht kein Unterschied.
Gott wartet auf Sie genauso wie auf mich."
"Es reicht", zischte Zakharov und hämmerte die Metalltasse auf die Theke.
"Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn. Ob Sie nun beten oder nicht,
das Schiff muß repariert werden. Und Sie werden es mir danken, Frau
Seelsorgerin". Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Miriam
blickte ihm ruhig nach; ihre Augen wanderten über die weiße Decke.
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