Reise nach Centauri: 20. Kapitel
 
"Dana. Hier ist ein Kandidat." Fähnrich Cassiano stand im abgedunkelten Kältedeck 4 über eine Kältekapsel gebeugt und verglich den Inventarcode seines tragbaren Touchscreens mit den Zahlen am Fuß der Kapsel.

"Eine Ärztin?"

"Ja. Gayle Nambala." Er wischte mit einem Ärmel den Reif von der Kapsel und spähte durch das Glas auf die schemenhafte Gestalt in ihrem Inneren. "32 Jahre alt, 115 Pfund. Scheint ziemlich gut in Form zu sein. Ach ja, ich kann mich an sie erinnern… vermutlich der bestaussehendste Eisblock auf diesem Deck. "

"Wirklich?" Dana blickte auf, er hatte ihre Neugier geweckt. "Wie sind ihre Lebensfunktionen?"

"Besser geht's nicht. Soll ich sie aufwecken?"

"Ja." Dana schien das Interesse bereits wieder verloren zu haben und schlenderte in einen ungewöhnlich dunklen Abschnitt im unteren Bereich des Decks. Cassiano gab einen Code in den kleinen Computer-"Grabstein" am Kopfende der Kapsel, ein, um die Aufwach-Sequenz zu initialisieren.

"Hey Dana, wußtest du, daß ich heute Geburtstag habe?"

"Herzlichen Glückwunsch", entgegnete sie ohne Ironie. "Wie fühlt man sich mit 75?"

"75? Du meinst wegen unseres Nickerchens?" Für einen Augenblick verstummte er und dachte über diese Vorstellung nach." Verdammt, ich bin alt."

"Vielleicht fühlst du dich damit etwas besser."

Seine Schnellverbindung signalisierte eine Nachricht und auf seinem tragbaren Bildschirm erschien eine Geburtstagstorte. Einen Augenblick später kletterte eine animierte Frau aus der Torte. Über ihrem Kopf prangte der Schriftzug "Dr. Gayle Nambala". Er lächelte. "So, so. Und ich dachte, Sex am Arbeitsplatz ist seit dem 20. Jahrhundert …"

"Oh, nein." Danas Stimme unterbrach seine Träumerei und er blickte auf. Sie stand jetzt im nächsten Abschnitt des Kältedecks, der durch eine Zwischenwand abgetrennt war. Er spürte, daß etwas nicht in Ordnung war.

Schnell lief er auf Dana zu - hinein in ein Totenreich.

Dieser Abschnitt des Kältedecks schien vollkommen unbeleuchtet zu sein, und auch das schwache bläuliche Licht der Kältekapseln war ausgefallen. "Die Energieversorgung muß unterbrochen sein", hauchte Dana. Cassiano war froh, daß er ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Als sie weiterging folgte er ihr. Ihrem Auge bot sich ein schrecklicher Anblick: Die unkontrolliert aufgetauten Kältekapseln hatten das Kältedeck in einen schaurigen Friedhof Verwandelt. In den Kapseln schwammen verweste Leichen in einer schleimigen Flüssigkeit.

"Jetzt haben wir Gewißheit", flüsterte er. "Es muß passiert sein als…"

"Warte", Dana unterbrach ihn. Er sah sie auf eine Kapsel zugehen, die in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Sie stand auf einer Plattform, etwas höher als die übrigen. Ein seltsam gelblich-oranges Licht umspielte die Kapsel. Cassiano fühlte sich, als würde er eine Krypta betreten oder einen Thron besteigen.

Wenn das Licht noch funktionierte, war möglicherweise auch die Kühlung nicht ausgefallen.

Cassiano versuchte, Informationen zu dieser Kältekapsel über den Touchscreen zu laden. "Kein Eintrag zu dieser Kapsel. Seltsam, selbst wenn man den chaotischen Start bedenkt. Möglicherweise sind in den Datenbanken einige Informationen gelöscht worden."

"Warum steht sie nicht bei den anderen?"

Cassiano zuckte mit den Achseln. "Sieht aus, als hätte sie gerade noch Platz gehabt." Als er sich der Kapsel näherte, bemerkte er seine schneeweißen Fingerknöchel, die immer noch auf dem Touchscreen ruhten.

Dana hatte die Kapsel inzwischen erreicht. "Diese Plattform ist der Energieverteiler, der diesen Abschnitt steuert. Eigentlich sollten hier nur Vorratsbehälter lagern, doch offensichtlich hat man einen neuen Bewohner einquartiert."

Cassiano spähte in die Kapsel. Er erkannte eine schemenhafte Gestalt, verborgen im Schatten der Kapsel. Der "Grabstein" war deaktiviert. Er legte seine Hand auf das Glas. Es war kalt. "Die Kühlung funktioniert, aber der Computer scheint im Eimer zu sein. Er liefert keinerlei Daten. Hirn- oder Gewebeschäden sind also nicht ausgeschlossen. Wenn er oder sie aufgetaut ist und anschließend wieder ..."

Dana spielte an dem kleinen Computer herum, doch nichts geschah. Erneut sprach Cassiano: "Ich werde einen Techniker rufen. Soll der doch den Computer reparieren. Vorher können wir die Aufwachsequenz nicht ..."

"Gib mir einen Stift", unterbrach Dana. Cassiano reichte ihn ihr reflexartig. "Und jetzt halt' einen Moment die Luft an."

Dana trennte den Computer von der Stromversorgung und untersuchte die Unterseite. Sie steckte den Stift hinein und drehte ihn. Anschließend entfernte sie die Rückwand des Gehäuses und berührte den Kontakt, der auf einem winzigen Chip aus Bronze saß. Sie überbrückte den Computer und das ausgesteckte Kabel.

Nach einem hörbaren 'Klick' stiegen im Inneren der Kältekapsel Blasen auf. Cassiano beobachtete das heftige Sprudeln. Die Gestalt in der Kapsel begann zu zucken. Er war fasziniert von diesem Anblick, der ihn gleichzeitig abstieß.

Unter der Kältekapsel warf das seltsame gelbe Licht flackernde Schatten auf den gleichmäßigen Glaskörper. Es schien, als würde er von feingliedrigen Fingern umschlossen. Aber wen versuchten sie festzuhalten?

"Ich hätte nicht gedacht, daß das so schnell funktioniert", flüsterte Dana. "Wir müssen Commander Lal informieren". Cassiano nickte. Dana beobachtete das Geschehen noch einige Augenblicke, bevor sie sich abwandte. "Vorwärts", befahl sie mit ruhiger Stimme.

"Sie bewundern Ihre Anführerin?"

Sicherheitsoffizier Anakkala, Yangs Bewacher, und gleichzeitig die Person, an die Yangs Frage gerichtet war, biß die Zähne zusammen und blickte starr in eine Richtung. Yang studierte jeden Teil ihres Körpers ... die Verkrampfung ihrer Schultern, das nervöse Zupfen an ihrer Splitterpistole, und das leichte Verkrampfen ihrer Zehen.

Er bog seine Handgelenke in den Fesseln, die ihm Santiagos Rebellen angelegt hatten. Anakkala zuckte bei dieser Bewegung mit dem Kopf. Yang beobachtete sie …ihre Anspannung war fühlbar. Anscheinend hatte Santiago ihre Leute vor ihm gewarnt. Sein Ruf war zu einer Waffe geworden.

Er richtete den Blick auf seine Bewacherin. "Ich bin durstig." Er senkte seine Augen und ließ in einer Geste der Unterwerfung seine Schultern hängen. Plötzlich wurden seine Augen glasig und sein Mund öffnete sich. Anakkala beobachtete ihn mit der typischen Verachtung des Starken für den Schwachen.

"Was ist los mit Ihnen?" krächzte sie.

Er schüttelte sich und sah sie an. "Niederlage", sagte er. "Ich bin in Ihrer Gewalt und Sie in Santiagos. Das Schiff ist jedoch in der Gewalt von Kräften, die wir nicht beeinflussen können." Während er sprach begann eines seiner Augen zu wandern. Fasziniert starrte sie ihn an. "Auf der Erde lag unser Schicksal in unseren Händen. Sie und ich hatten die Chance, unser Schicksal zu beeinflussen. Wir haben uns für dieses Schiff und sein Versprechen entschieden."

"Ich darf nicht mit Ihnen sprechen", entgegnete Anakkala steif und löste sich aus seinem bohrenden Blick. Sie begann, auf- und abzugehen.

Er sprach weitermit monotoner Stimme. "So groß ist also Ihr Glaube an Santiago - eine meiner Untergebenen." Erneut sah sie ihm ins Gesicht. Und wieder bewegte sich sein Auge. Fasziniert starrte sie es an und folgte ihm willenlos. "Sie ergreift Besitz von Ihnen, so stark ist ihr Charisma. Sie sehen sie an und empfinden Bewunderung. Ihr eigener Wille wird unbedeutend". Anakkalas Atmung wurde langsamer, sie errötete und ihre dunkelblauen Augen weiteten sich. Ihre Hände entspannten sich und auch die Anspannung in ihren Schultern begann sich zu lösen.

"Sie wachen und denken an ihre Augen. Sie schlafen ...Sie schlafen und glauben ..." Sein stechender Blick verlor sich, doch sie verharrte weiterhin wie eine Wachsfigur. Sie beobachtete ihn, beobachtete alles an ihm. "Sie glauben, Santiago kann mich hier festhalten, aber vielleicht gelingt ihr das nicht."

Er hob seine Hände und teilte sie mühelos. Klappernd fielen die Fesseln zu Boden. Anakkala ächzte und erhob ihre Waffe, doch ihre aufgerissenen Augen waren starr, ihre Bewegungen wie in Trance.

"Merken Sie sich das Gesicht des Feindes." Er erhob sich und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Dann ging er auf sie zu und berührte ihr Gesicht. "Das ist das Gesicht des Feindes." Erneut berührte er ihr Gesicht, streichelte sie und hauchte erneut mit flüsternder Stimme: "Das ist das Gesicht des Feindes. Nun werde ich gehen".

Er drehte sich um und ging. "Stop!" Ein Schrei aus vollen, betäubten Lippen hallte durch den Raum. Sie hob ihre Waffe und richtete sie auf ihn, ihren Feind, den Feind, der sie selbst war. Sie fühlte das Zittern ihrer Hände, als er mit teilnahmsloser Mine zurückkehrte. Dieses Gesicht ... sie drehte die Waffe. Ihr Handgelenk wehrte sich, als die Pistole sich ...auf ihr eigenes Gesicht richtete...

Es gab einen Knall, kurz und scharf. Yang sah gelassen zu, wie Anakkala feuerte und sich ihr Gesicht in ein Gemisch aus Blut und Gewebefetzen verwandelte. Ein kurzer Schauer durchlief ihn, als er an die Schönheit ihrer tiefblauen Augen dachte.

Er trat an die Leiche heran und nahm die Berechtigungskarte aus ihrem Gürtel. Alles war nur eine Illusion gewesen. Natürlich hatte er immer noch gefesselte Hände und mußte sich befreien. Jetzt endlich sah er eine Möglichkeit zur Flucht. Und auch die Waffe war für sein Vorhaben sicherlich von Vorteil.

Er warf einen letzten Blick auf die Tote und eine seltsame Traurigkeit überkam ihn.

  Schnellverbindung, anonym
An: Alle Überlebenskämpfer

Doktor Yang weilt nicht mehr unter uns.